Stadtphysikus, Universalmediziner und Wegbereiter der Psychiatrie

Bereits wenige Jahre nach dem Tod von Johann Christian Reil (1759–1813) setzte eine Diskussion über sein Wirken und sein Werk ein. Während der Autor der ersten Reil-Biographie, Henrik Steffens (1773–1845), Reils Wirken in den Kontext der Naturmedizin und -philosophie stellte, sprach der Arzt Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) von „Reils naturphilosophischen Phantasien und Melancholien“, die auf keinen Fall veröffentlicht werden dürften. Auch der erste außerordentliche Professor für „psychische Therapie“, Johann Christian August Heinroth (1773–1843), äußerte Kritik an Reils Arbeiten, die „das Gepräge der Nichtvollendung“ hätten. Dennoch sah Heinroth „in Reil den Urheber der eigentlichen psychischen Medizin“. Die Positionen der Zeitgenossen Reils prägten bis weit ins 20. Jahrhundert hinein das Bild von Johann Christian Reil. In diesem Jahr gedenken wir seines 200. Todestages und möchten Reil als Universalmediziner, Stadtphysikus und Wegbereiter der Psychiatrie würdigen. Aus diesem Anlass veranstaltet das Institut für Geschichte und Ethik der Medizin an der Medizinischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg vom 18. bis 19. Juni 2013 in Halle/Saale eine einschlägige Tagung (nähere Informationen erhalten Sie auf der Homepage des Instituts: www.medizin.uni-halle.de/igem).

Johann Christian Reil wurde am 20. Februar 1759 in Rhaude (Ostfriesland) als Sohn eines Pastors geboren. Nach einer humanistischen Ausbildung am Gymnasium nahm er ab 1779 das Medizinstudium in Göttingen und 1880 in Halle auf. 1782 wurde Reil zum Dr. med. et chir. mit einem „Tractatus de polycholia“ promoviert. Nach seiner Dissertation durchlief Reil 1782 den „Cursus“ in Berlin für die ärztliche Approbation in Preußen und absolvierte sein praktisches Jahr bei Marc Herz (1747–1803) am Jüdischen Krankenhaus in Berlin. Anschließend praktizierte er drei Jahre in seiner Heimat in Norden (Ostfriesland). 1787 kehrte er nach Halle zurück und wurde außerplanmäßiger Professor der Medizin, bevor er ein Jahr später 1788 als Nachfolger seines Doktorvaters Johann Friedrich Gottlieb Goldhagen (1742–1788) ordentlicher Professor der Therapie wurde und zugleich die Leitung des Clinicums („Scola Clinica“) in Glaucha, dem ehemaligen Krankenhaus der Franckeschen Stiftungen, übernahm.
Zeitgleich war er Stadtphysikus in Halle und hatte ab 1789 die Leitung des Halleschen Stadtkrankenhauses auf dem Gelände des Hospitals „St. Cyriaci et Antonii“ inne. Als Stadtphysikus musste Reil alle Kranken behandeln, Medikamente in der Stadt-Apotheke anfertigen lassen und im Hospital, Lazarett sowie im Zucht- und Arbeitshaus nach den Kranken sehen. Zusätzlich betrieb er eine private Arztpraxis in seinem Wohnhaus in der Großen Ulrichstraße 36. Das Haus, das er 1795 kaufte, diente ihm gleichzeitig für Unterrichtszwecke, denn er hielt auch seine Vorlesungen hier. Im Klinikum in den Franckeschen Stiftungen bot Reil eine unentgeltliche Sprechstunde für mittellose Kranke an und nutzte diese auch zu Ausbildungszwecken für Medizinstudenten.
In seiner Schrift „Über die eigenthümlichen Verrichtungen des Seelenorgans“ (1794/1811) prägte Reil den Begriff des „Seelenorgans“ und lokalisierte den Sitz der Seele im Gehirn. Eine Gleichsetzung bestimmter Gehirnregionen als mit dem Seelenorgan identisch lehnte Reil ab. Statt das Gehirn auf der Suche nach dem Seelenorgan zu untersuchen, sollte das Interesse dem Nervensystem generell gelten. So reizen nach Reil die Nerven der Sinnesorgane das Seelenorgan und erst die erregte eigentümliche Tätigkeit des Seelenorgans bringt die Vorstellungen hervor. Es sind damit nicht die Nerven, die empfinden, sondern ihre Funktion besteht in der Weiterleitung von Reizen zum Seelenorgan, welches allein empfindet und das Werkzeug der Vorstellungen ist. Unter dieser Prämisse nahm Reil die äußeren Lebensumstände des Menschen in den Blick und prüfte, wie Lebensweise, Erziehung und soziale Bedingungen Gehirn und Nervensystem beeinflussen können.

1803 veröffentlichte er seine „Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Curmethode auf Geisteszerrüttungen“. Auf 504 Seiten finden sich dort in 28 Paragraphen Gedichte, Lieder und Prosa, in denen Reil die Einrichtung öffentlicher Irrenhäuser forderte. Die Texte umreißen das Bild der zeitgenössischen deutschen Psychiatrie. Mit dem Begriff der Psychotherapie setzte sich Reil auseinander und ging hier recht modern von einer, wie er es nannte, „psychischen Curmethode“ aus. Wenige Jahre später gab Reil in seiner Arbeit „Ueber die Eigenschaften des Ganglien-Systems und sein Verhältnis zum Cerebral-System“ von 1807 ein physiologisches Erklärungsmodel für den aufkommenden Gedanken der Tiefenpsychologie.

In seinem Aufsatz „Über den Begriff der Medicin und ihre Verzweigungen, besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik der Psychiaterie“ beschrieb Reil 1808 erstmals den Begriff „Psychiaterie“. Hier ging er vom Prinzip eines Kontinuums von Psyche und Soma, von Leib und Seele aus, und formulierte: „Der Mensch hat eine psychische, physikalisch/chemische und mechanische Receptivität; diese zuverlässig, aber auch keine mehr.“ Des Weiteren war er vom Prinzip der Untrennbarkeit der Psychiatrie von der Gesamtmedizin tief überzeugt: „Es giebt also keine psychische Medicin sondern eine Psychiaterie; eine Chirurgie, aber keine chirurgische Medicin.“ Anschließend beschrieb er eine eigenständige Theorie der Psychiatrie, die einen umfassenden Begriff der Psychiatrie zugrunde legte. Sein umfassender Ansatz versteht Psychiatrie, Psychosomatik und medizinische Psychologie als Einheit und als Teil einer gesamten Medizin.
Reil war darüber hinaus ein überzeugter Patriot, und dies mit großem Erfolg. 1808 wurde unter seinem Dekanat die Universität Halle wiedereröffnet, nachdem sie 1806 durch den Einmarsch der Franzosen geschlossen worden war. Doch bereits zwei Jahre später, 1810, folgte er einem Ruf nach Berlin – Rufe 1802 nach Göttingen und 1809 nach Freiburg hatte er abgelehnt. An Berlin reizte ihn vermutlich die Neugründung der Universität. Schon 1811 war Reil Dekan der Medizinischen Fakultät in Berlin geworden und leitete gleichzeitig die „wissenschaftliche Deputation für das Medizinalwesen“ beim Ministerium des Innern. Zwei Jahre später leitete er das preußische Feldlazarett auf dem linken Elbufer, als er in die Freiheitskriege zog. Im gleichen Jahr, am 22.11.1813, starb Johann Christian Reil in Halle an Typhus.

Dr. Maximilian Schochow und Prof. Dr. Florian Steger
Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Medizinische Fakultät, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Magdeburger Straße 8, 06112 Halle, Diese E-Mail-Adresse ist vor Spambots geschützt! Zur Anzeige muss JavaScript eingeschaltet sein!