Karolina Kuszyk
Spuren deutscher Vergangenheit in Westpolen
Westpolen? Es sind die ehemals deutschen Ostgebiete gemeint, Schlesien, die Neumark, Pommern, Ostpreußen. Die Autorin Karolina Kuszyk wurde dort geboren, im niederschlesischen Liegnitz (Legnica). Ihre Herkunft als Polin mit ukrainischen Wurzeln pflanzte sie in eine Heimat, mit deren unsicherer Vergangenheit sie sich nicht abfinden will. Sie lebt und arbeitet als Buchautorin und Publizistin mit ihrem deutschen Ehemann in Berlin. Es sind nicht nur einzelne Spuren der verschwundenen Deutschen (niemieckie), die sie aufnimmt. Es wird ihr im Laufe ihrer Recherchen immer klarer, dass die gesamte Vergangenheit ihrer Heimat einmal deutsch war, trotz aller krampfhaften Versuche des Staates, eine polnische Vergangenheit dieser sog. wiedergewonnenen Gebiete herzustellen.
Die Besiedlung der nach dem Zweiten Weltkrieg fast ganz leergeräumten preußischen Provinzen hinter Oder und Lausitzer Neiße inkl. Ostseeküste bis an das Baltikum und in die Masuren erfolgte ab 1945 nach Überrollen durch die Ostfront durch eine nachrückende polnische Bevölkerung aus dem z. T. zerstörten Zentralpolen, die mit besten Voraussetzungen für eine neue Existenz gelockt wurde. In ihrem Gefolge kamen auch Plünderer, Banditen und andere Entwurzelte. Sie nahmen sich, was leer stand und auch, was noch deutsch bewohnt war. In einer zweiten Welle wurden in der „Aktion Weichsel“ Polen, Lemken und Bojken aus der Ukraine nach Westen transferiert, insgesamt ein Bevölkerungsaustausch größten Ausmaßes. Die ehemals blühende schlesische Metropole Breslau (Wroclaw) wird von Karolina Kuszyk als in der Welt größte Stadt bezeichnet, der jemals die gesamte Bevölkerung innerhalb kürzester Zeit ausgewechselt wurde. Der neue „Wilde Westen“ wurde als gelobtes Land angeboten, teils zerstört aber gut bewohnbar. Das Propagandanarrativ lautete: Rückkehr auf ureigenes Territorium, das postdeutsche (poniemiecka) Polen.
In sieben Sachkapiteln mit zahlreichen Untertiteln erörtert die Autorin ihre Erkenntnisse zum inhaltsschweren Buch: Hauser; Plündern; Möbel; Dinge; Schätze und Geheimnisse; Friedhöfe; Liegnitz heißen ihre Überschriften. Dass sie Kirchen nur mitunter und ganz am Rande erwähnt, mag Gründe haben, die den Rahmen ihres Buches sprengen würden. Denn schließlich war der größere Teil dieser Provinzen von Protestanten bewohnt.
Ein Drittel aller Polen lebte nach dem großen Ortswechsel in ehemals deutschen Häusern und Höfen und arbeitete sich an dem darin befindlichen „Plunder und Müll“ ab, immer in der Angst vor der Rückkehr der ehemaligen Eigentümer. Wenn diese Immobilien schon nicht in Besitz genommen wurden, wurden sie doch ausgeplündert, die städtischen Villen und Geschäftsräume etc., bevor eine Nomenklatura des neuen Staates sich die besten Stücke gegenseitig zuschob. Die anarchischen Verhältnisse der unmittelbaren Nachkriegszeit und spätere Interessenlosigkeit ließen keinerlei Willen zur Erhaltung der Bausubstanz und Pflege des Interieurs zu. Bis 1956 sollte auf zentralen politischen Beschluss hin keine Spur des „Germanismus“ mehr zu sehen sein, ausgerottet wie jede andere Krankheit auch, meinte man. Alles Deutsche sollte ausgefegt, die Ortsnamen mussten umgehend polonisiert werden. Die mitunter wehrhaften Inschriften an Häusern und Grabsteinen waren zu entfernen, mindestens aber zu verstecken. Geplünderte Steine aus Schlesien wurden für den Wideraufbau Warschaus verwendet. Die Bezeichnung für Deutsche (niemieckie) war gegen alle Regeln der polnischen Orthografie klein zu schreiben. Von vielen Nachnutzern wurde es als Zumutung empfunden, mangels mitgebrachter Ausrüstung das deutsche vorgefundene Zeug benutzen zu müssen. Plündern wurde im Übrigen nicht für eine Sünde gehalten.
Katarina Kuszyk schreibt ausdruckstark und wunderbar bildreich und mit einem ihr eigenen Humor. Sie zitiert an vielen Stellen polnische Literatur, übersetzt sie dankenswerterweise auch gleich in Klammern vor Ort im laufenden Text. Dieses sehr ehrliche Buch liest sich wie ein Paradigmenwechsel in der Begegnung zwischen Polen und Deutschen. Man erfährt von der Polin unwahrscheinlich viel über deutsche bürgerliche Kulturgeschichte, über Einrichtungen und Haushalte. Es sind die überwiegend vernichteten deutschen Friedhöfe, die gemeinsame Anstrengungen zum Erhalt ihrer grünen Zonen und zur Sicherung von Resten ihrer früheren Ausstattung auslösten. Wer, wie der Rezensent Zeitzeuge des Geschehens war, lebt das Buch mit, dieses gute Stück Sach- und Geschichtsliteratur. Es kann sehr zur Lektüre empfohlen werden, nicht nur den ehemaligen Bewohnern der im Größenwahn verspielten Gebiete.
Im Anhang befinden sich das verdienstvolle Verzeichnis verwendeter deutscher Ortsnamen und ihrer polnischen Pendants, eine Liste der gesetzlichen polnischen Bestimmungen zum Thema und eine umfangreiche Bibliografie inkl. Internet. Ein Lob dem Übersetzer! Die 5. Auflage spricht für sich.
F.T.A. Erle, Magdeburg (April 2022)
Cover: Verlag