Skip to main content

Kleine Schritte, große Wirkung

Ein Plädoyer für „inkrementelle“ Wissenschaft

Ein Plädoyer für „inkrementelle“ Wissenschaft

Ralf Ludwig, Universität Rostock, Institut für Chemie, Physikalische und Theoretische Chemie

Zuerst erschienen in Forschung & Lehre 9/23

Prof. Ralf Ludwig

Disruptive Forschung kommt öffentlich mit einem lauten Knall daher. Sie wirkt beeindruckend, erfolgreich. Dabei leistet gerade die Forschung in kleinen Schritten, die inkrementelle Forschung, Antworten auf viele gesellschaftlich drängende Fragen.

„Die Vermessung der Welt“ unternahmen die berühmten Wissenschaftler Alexander von Humboldt und Carl Friedrich Gauß in Daniel Kehlmanns gleichnamigem Roman auf ihre eigene Weise. Heute, etwa 200 Jahre später, würden diese Riesen der Wissenschaft und deren Leistung selbst vermessen. Mit der Scientometrie würde Maß genommen – und beide wohlmöglich für zu klein befunden. Aus Giganten würden Zwerge der Wissenschaft. Denn die Aktivität und Produktivität würde gemessen in Impact-Faktoren, H-Indices, Altmetrics und Drittmitteleinwerbung.

Jetzt hat ein neuer Index zur Vermessung wissenschaftlicher Leistung Aufsehen erregt: Der CD-Index, C steht für „Consolidation“ und D für „Disruption“. Beide Begriffe stammen aus der Ökonomie.

Prof. Ralf Ludwig
(Foto: ITMZ/Universität Rostock)

Veröffentlichungen und Patente zwischen 1945 und 2010 wurden danach ausgewertet, wie „disruptiv“ die Wissenschaft sei. Das ernüchternde Ergebnis: auf allen untersuchten Gebieten wie der Physik, den Lebenswissenschaften oder Sozialwissenschaften sei der CD-Index drastisch gesunken, um bis zu 90 Prozent. Das alarmiert Journalismus, Wissenschaftsmanagement und Politik: Wo bleibt der nächste Einstein? Müssen wir unser Fördersystem überdenken? Haben wir zu viel Geld in zu wenig Ergebnis gesteckt?

Aber was soll „disruptive“ Wissenschaft überhaupt sein? Durch die Relativitätstheorie ist die klassische Mechanik nicht hinfällig geworden und auch Newton stand nach eigenem Bekunden schon auf den Schultern von Riesen. Watson und Crick haben mit der DNA ein großartiges Strukturmotiv gefunden, die Wissenschaft revolutioniert haben sie damit nicht. Ungesagt bleibt zudem, dass beide das Experimentieren gerne anderen überließen und sich sogar mit fremden Federn geschmückten. Von guter wissenschaftlicher Praxis konnte hier nicht die Rede sein.

Und was soll demgegenüber „Consolidation“ in der Wissenschaft bedeuten? In der deutschen Übersetzung wird gleich abwertend von „inkrementeller“ Wissenschaft gesprochen. Die Crispr-Technik oder sogenannte Genschere sei inkrementell, weil die grundlegenden Arbeiten bereits 20 Jahre zurücklägen. Ebenso die Entwicklung der wirksamen Impfstoffe gegen Corona, weil die zugrundeliegende mRNA-Technik schon 30 Jahre alt sei. Wenn das „inkrementelle“ Wissenschaft ist: Sollten wir nicht mehr davon haben?

Bei genauer Betrachtung wird es die „inkrementelle“ Wissenschaft sein, die wesentlich zur Problemlösung beitragen wird und deshalb ein positives Ansehen verdient. Dies sei anhand vier konkreter Beispiele aus der lesenswerten Agenda 2030 der Vereinten Nationen aufgezeigt.

Beispiel: Ernährung

Wenn wir heute mit dem Ziel Nr. 2 der UN-Agenda mehr Ernährungssicherheit auf unserem Globus fordern, dann hängt dies entscheidend von einem großtechnischen chemischen Verfahren ab. Im berühmten Haber-Bosch-Prozess wird aus atmosphärischem Stickstoff und Wasserstoff bei hohen Drücken und Temperaturen unter Zuhilfenahme eines eisenhaltigen Katalysators Ammoniak gewonnen.

Das bedeutende Chemieverfahren mit einem Produktionsausstoß von mehr als 150 Millionen Tonnen im Jahr 2017 deckt fast die gesamte weltweite Produktion. Ammoniak wird überwiegend für die Herstellung von Düngemitteln verwendet und trägt damit wesentlich zur Ernährung der Weltbevölkerung bei.

Die Fixierung von Stickstoff aus der Atmosphäre für die Herstellung von Düngemitteln wurde in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts als „Brot aus der Luft“ gefeiert. Fritz Haber erhielt dafür 1918 den Nobelpreis, Carl Bosch 1932 für die Entwicklung des industriellen Prozesses, Gerhard Ertl in 2006 für die vollständige Aufklärung der Reaktionsmechanismen. Von der Grundlagenforschung zur Anwendung und wieder zurück. Aus erkenntnisgewinnender Forschung wurde erkenntnisnutzende Forschung. Ein Beispiel für gelungenen Wissenstransfer.

Und damit dürfen wir nicht aufhören. Aus heutiger Sicht wirft die Ammoniak-Synthese Probleme auf. Hohe Temperaturen und Drücke können nur durch eine erhöhte Energiezufuhr erreicht werden. Dies ist mit beträchtlichen CO2-Emissionen verbunden. Der für die Synthese mit Stickstoff eingesetzte Wasserstoff kommt aus Erdgas. Allein zehn Prozent des Erdgases weltweit werden im Haber-Bosch-Verfahren eingesetzt. Wir müssen also nach technischen Lösungen suchen, die Ammoniak-Synthese bei milderen Bedingungen durchführen oder gar andere Prozesse der Stickstofffixierung finden.

Die in vielen Jahren Grundlagenforschung entwickelte mRNA-Technologie hat Impfstoffe in Rekordzeit verfügbar gemacht und damit die Pandemie entscheidend beeinflusst.
So konnten schwere Verläufe deutlich reduziert werden.

Beispiel: Gesundheit

Ziel Nr. 3 der UN-Agenda fordert ein gesundes Leben für alle Menschen jeden Alters. Dazu gehört unter anderem eine schnelle, finanziell verträgliche und gesellschaftlich akzeptierte Entwicklung von Arzneimitteln. Bestes Beispiel dafür sind die Covid-Impfstoffe. Die in vielen Jahren Grundlagenforschung entwickelte mRNA-Technologie hat Impfstoffe in Rekordzeit verfügbar gemacht und damit die Pandemie entscheidend beeinflusst. So konnten schwere Verläufe deutlich reduziert werden.

Mit der mRNA-Technologie kann sehr flexibel eine große Bandbreite an Krankheitsbildern adressiert werden. Sie erlaubt eine schnelle Entwicklung von Medikamenten und vor allem eine Skalierbarkeit in der Produktion von sehr kleinen bis hin zu sehr großen Mengen. Die Palette reicht hier von Impfstoffen gegen Infektionskrankheiten bis hin zu Medikamenten gegen Krebserkrankungen. Booster-Impfstoffe sind innerhalb kurzer Entwicklungszeit verfügbar. Eine solches Entwicklungstempo für Impfstoffe war bis vor kurzem undenkbar, ist nun aber dank der mRNA-Technologie möglich geworden.

Heute noch begeistert mich das „Projekt Lightspeed“, der Weg zum Biontech-Impfstoff, den Özlem Türeci, U˘gur S˛ahin und später hinzugekommen Katalin Karikó so enthusiastisch verfolgt haben. Die Wissenschaftlerinnen und der Wissenschaftler haben gebrannt für die Forschung, sie haben den neuen Impfstoff unbedingt gewollt und rund um die Uhr dafür gearbeitet. Auch solche Phasen im Leben von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern muss es geben. Man kann nicht einfach auf den Zufall warten. Der Biochemiker Carl Ferdinand Cori sagte einmal: „Luck does not exist because it is always the same people who are lucky.”

Beispiel: Energieversorgung

In Ziel Nr. 7 der UN-Agenda wird eine bezahlbare, verlässliche und nachhaltige Energie gefordert. Natürlich steht hier die Entwicklung der erneuerbaren Energiequellen im Fokus. Wind und Sonne sind solche unerschöpflichen Quellen, stehen aber nicht rund um die Uhr, zu jedem Tag und zu jeder Jahreszeit gleichmäßig zur Verfügung.

Um die Volatilität dieser Energieformen aufzufangen, benötigen wir ausreichende Speicherkapazitäten und geeignete Transportmöglichkeiten für den aus Erneuerbaren erzeugten Strom. Dazu muss die Entwicklung von Batterien und Akkus und deren Einsatz im Verkehr weiter vorangetrieben werden. Auf die Wasserstofftechnologie werden wir ebenfalls nicht verzichten können. Mit Strom aus On- und Off-Shore Windanlagen wird durch Elektrolyse von Wasser der Energieträger Wasserstoff gewonnen, für den geeignete Speicher- und Transportmöglichkeiten zu entwickeln sind.

Da der reine Wasserstoff schlecht zu handhaben ist, empfiehlt sich eine Speicherung in wasserstoffreichen Molekülen, wie Ameisensäure, Ammoniak, Methanol oder Methan. Diese Verbindungen können zudem als Grundstoffe in der chemischen Industrie eingesetzt werden, die bisher aus fossilen Energieträgern gewonnen werden mussten. Transportmöglichkeiten dafür sind bereits vorhanden, so dass am Zielort auch wieder Wasserstoff freigesetzt und mittels einer Brennstoffzelle wieder Strom „on demand“ gewonnen werden kann.

Beispiel: Atmosphäre

Ziel Nr. 9 der Vereinten Nationen fordert den Aufbau einer widerstandsfähigen Infrastruktur, die Förderung einer breitenwirksamen und nachhaltigen Industrialisierung sowie die Unterstützung von Innovationen. Hier sei an die berüchtigten Fluorchlorkohlenwasserstoffe (FCKW) erinnert, die vor langer Zeit entwickelt wurden, um giftige und schnell entflammbare Kältemittel zu ersetzen.

In den 80er Jahren stellte sich heraus, dass diese FCKW wesentlich zum Abbau der Ozonschicht beitragen. Im Montrealer Protokoll von 1987 wurde international vereinbart, geeignete Maßnahmen zu ergreifen, um die menschliche Gesundheit und die Umwelt vor schädlichen Auswirkungen zu schützen. Dies kam einem Verbot der FCKW gleich. Die Substitution der FCKW war nicht einfach, denn die Vorteile dieser Substanzen, nämlich inert und nicht entflammbar zu sein, sollten nicht verloren gehen. Der Ersatz gelang, inzwischen hat sich die Ozonschicht erholt. Auch hier ging die Grundlagenforschung voran.
Für die Aufklärung des Ozonabbaus in der Atmosphäre erhielten Paul Crutzen, Mario Molina und Sherwood Roland 1995 den Nobelpreis für Chemie. Allerdings muss kräftig weiter geforscht werden, denn die neuen Kältemittel tragen zur Klimaerwärmung bei. Um diese Transformation zu bewältigen, müssen wir interdisziplinär unsere Kompetenzen bündeln.

Die Bedeutung der Grundlagenforschung

Kleine Schritte werden unterschätzt. Offensichtlich sind sie unverzichtbar für die Bewältigung großer Herausforderungen. Wirklicher Fortschritt wird aber nur erzielt, wenn sie nachhaltig sind, von der Gesellschaft akzeptiert werden und die Situation von Menschen und Umwelt wirklich verbessern. Dies bedarf nicht nur struktureller Änderungen, sondern auch der Abkehr von einem reinen Wachstumsdenken.

Anstatt uns immer wieder aufs Neue vermessen zu lassen, sollten wir selbstbewusst Wissenschaft und Forschung betreiben und es mit Popper halten: Die Wissenschaft habe der Suche nach der Wahrheit zu dienen, aber auch zur Lösung von Problemen und der Verminderung von Übel und Leid beizutragen. Und gesellschaftliche, wirtschaftliche und ökologische Probleme haben wir genug auf der Welt. Stichworte wie Klimakrise, Ernährungssicherheit oder Artensterben geben ein beredtes Zeugnis davon.

Viele der Ziele für eine nachhaltige, soziale, ökonomische, und ökologische Entwicklung unserer Welt können nur mit exzellenter und eben oftmals „inkrementeller“ Wissenschaft und Forschung erreicht werden, unterstützt durch Diversität, Wissenstransfer, Internationalität und Interdisziplinarität.

Erkenntnis fliegt uns nicht einfach zu. Bertolt Brecht hat die Mühsal des Forschens im „Leben des Galilei“ erfasst: „Ja, wir werden alles, alles noch einmal in Frage stellen. Und wir werden nicht mit Siebenmeilenstiefeln vorwärtsgehen, sondern im Schneckentempo. Und was wir heute finden, werden wir morgen von der Tafel streichen und erst wieder anschreiben, wenn wir es noch einmal gefunden haben. Und was wir zu finden wünschen, das werden wir, gefunden, mit besonderem Misstrauen ansehen.“

Dann rechnet er ab. „Sollte uns dann jede andere Annahme als diese unter den Händen zerronnen sein, dann keine Gnade mehr mit denen, die nicht geforscht haben und doch reden.“ Für seinen „Galilei“ ging Brecht in das Kopenhagener Institut von Niels Bohr, um sich ein eigenes Bild von der Welt der Forschung zu machen. Eine wirklich kluge Idee, die man Journalistinnen und Journalisten, die über Forschung schreiben, sowie Politikerinnen und Politikern, die über Forschung entscheiden, nur ans Herz legen kann.

Es stimmt, Wissenschaft und Forschung brauchen oft lange, bis sie Früchte tragen. Aber exzellente Grundlagenforschung in allen Disziplinen ist der Schlüssel für die Krisenfestigkeit und Zukunftskompetenz.

Korrespondenzanschrift:
Prof. Dr. Ralf Ludwig
Universität Rostock
Institut für Chemie
Physikalische und Theoretische Chemie
Albert-Einstein-Straße 27
18059 Rostock

Foto: freepik.com
Foto: freepik.com/pressfoto

Literatur

  1. Die Vermessung der Welt, Daniel Kehlmann, Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2005.
  2. Park, M., Leahey, E. & Funk, R. J. Papers and patents are becoming less disruptive over time, Nature 613, 138–144 (2023); Max Kozlov, ‘Disruptive’ science has declined — and no one knows why, Nature 613, 225 (2023).
  3. An den Grenzen des Wissens: Wo bleibt der nächste Einstein? Birgit Herden, Tagesspiegel, 15. Januar 2023
  4. Transforming our world: the 2030 Agenda for Sustainable Development | Department of Economic and Social Affairs (2023). Online verfügbar unter https://sdgs.un.org/2030agenda, zuletzt aktualisiert am 04.05.2023, zuletzt geprüft am 04.05.2023.
  5. Brecht, Bertolt (2004): Leben des Galilei. Schauspiel. [65. Aufl.]. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Edition Suhrkamp, 1).
  6. Perspektiven der Wissenschaft. Jenseits von Ideologien und Wunschdenken, Manfred Eigen, DVA Deutsche Verlags-Anstalt, 1988.

Weitere Artikel