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Buchrezension

Mit dem Rollstuhl in die Tatra-Bahn

Mit dem Rollstuhl in die Tatra-Bahn

Menschen mit Behinderungen in der DDR | Ulrike Winkler

Mitteldeutscher Verlag, Halle 2023, ISBN 978-3-96311-641-4, gebunden im Oktavformat, schwarz-weiß illustriert, 312 Seiten, 32,00 €

Im Prinzip sind sie schon Geschichte, die Straßenbahnen Marke Tatra aus Prag, in der DDR allgegenwärtig auf den innerstädtischen Schienensträngen. Fahrende Barrieren waren sie aus Sicht von Behinderten, die auf die Mobilität im Rollstuhl angewiesen waren. Dort, wo Restbestände heute noch eingesetzt werden, wird vor ihnen mit einer Markierung im Fahrplan quasi gewarnt.

Der Kampf gegen Barrieren der individuellen Mobilität Behinderter in der DDR ist Thema des Buches. Die Historikerin und Politikwissenschaftlerin Dr. Ulrike Winkler legt hier einen umfassenden Forschungsbericht, erstellt in den Jahren 2018 – 2022, zur Geschichte der Mobilität Gehbehinderter und zu den Bemühungen um Überwindung dieses Handicaps mit besonderem Augenmerk auf deren Ursachen in der „gebauten Umwelt“ vor. Sie nimmt unter diesem Aspekt die jüngere Geschichte der Nachbarstädte Halle/Saale und Halle-Neustadt (HaNeu) ins Visier ihrer Untersuchungen. Die Aufgabe wurde also unter die Bedingungen einer historisch gewachsenen Universitätsstadt im Vergleich zur in relativ kurzer Zeit errichteten Wohn- und Schlafstadt für die Werktätigen der chemischen Industrie in Leuna und
Schkopau/Buna gestellt. Beide Städte waren unmittelbare Nachbarn, die eine mit ihrer alten, zu Teilen im Verfall begriffenen Bausubstanz; die andere vom planmäßigen Aufbau geprägt und auf industrieller Fertigung basierend, geschaffen für eine absehbar junge, arbeitsfähige Einwohnerschaft. Alt und behindert werden war nicht vorgesehen. Beide Stadtstrukturen beinhalteten allseitig vorhandene Barrieren und so gut wie keine Unterstellmöglichkeiten für Rollstühle verschiedener Bauart und Ausrüstung, sowohl in den maroden Altbauten der an sich lebenswerten und lebendigen Stadt Halle, der grauen Lady, als auch in den Baukästen der neuen Nachbarin HaNeu. Anpassungen an eine sich ändernde Bewohnerschaft waren nicht ohne Reibungen zu realisieren. Dem Abriss alter Häuser für Neubauten in der alten Stadt standen die Widerstände der Stadtbilderhalter entgegen. In der Neustadt waren es die noch mobilen Wohnnachbarn, die ihr bisheriges Wohnumfeld nicht von Rampenanbauten und Unterstellhütten verschandeln lassen wollten. Zudem war die Aufzugssituation z. T. obsolet, auch in HaNeu. Die durch vielfältige Eingaben, also Beschwerden von Bürgern, alarmierten staatlichen Ämter versuchten zu helfen, indem sie die Probleme mit Bitte um Lösungen an die Architekten und Bauleute weitergaben. Vieles davon versickerte im Sand der Bürokratie, vor allem aus Gründen des engen finanziellen Rahmens und des Mangels an Baukapazität und Material. Einiges wurde realisiert. Der Selbsthilfe der Behinderten war ebenso ein sehr begrenzter Spielraum gesetzt. Als sich dann aktivistische Gruppen von Betroffenen zusammentaten, z. B. die Betreuungsgruppe Multiple-Sklerose-Kranker (BMSK), war das den Behörden auch nicht recht. Signalisierten sie doch eine nicht ausreichende Sorge des sich paternalistisch gebenden sozialistischen Staates für seine Bürger.

Ulrike Winkler, mit dem Blick einer westdeutschen Wissenschaftlerin ausgerüstet, ist tief abgetaucht in die Archive von Ämtern und Dienststellen mit Bezug zur Schnittstelle des Wohnens und der Mobilitätsbehinderung im persönlichen Umfeld, den öffentlichen Gebäuden und den Stätten der Kultur und Dienstleistung. Zudem führte sie Interviews mit noch erreichbaren Zeitzeugen.

Das Buch wird natürlich vor allem die Mobilitätsbehinderten von gestern und heute interessieren. Es dokumentiert eine Fülle von Material im laufenden Text und den oft raumgreifenden Fußnoten. Es wird durch ein paar schwarz-weiße Fotos aus privaten Quellen optisch unterstützt (s. Cover). Trockenen Zitaten aus Akten stehen lebendige Schilderungen von Zeitzeugen gegenüber. Die sachliche Sprache aus dem zeitlichen, historischen und biografischen Abstand lässt nie den Eindruck eines Besserwissens der Historiografin entstehen. Es ist ein modernes Buch zur Geschichte der Bemühungen um die Beseitigung von Barrieren, ein auch in unseren Tagen noch relevantes Problem.

Heute sind Halle/Saale samt Halle-Neustadt eine einzige Kommune. Tatra-Bahnen gibt es dort nicht mehr, Barrieren aber wahrscheinlich noch zahlreich!

F.T.A. Erle, Magdeburg (August 2024)

Cover: Verlag