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Themen ärztlicher Haftung

Arzthaftpflicht – Rückblick 2023 und Ausblick 2024

Arzthaftpflicht – Rückblick 2023 und Ausblick 2024

Die Themen des Jahres 2023 betrafen viele Aspekte ärztlicher Haftung, angefangen von der Herausgabe von Behandlungsunterlagen über Aufklärungsfragen bis zu Verkehrssicherungspflichten. 2024 wird ebenfalls spannend: Politische Diskussionen haben das Potential, Schadenersatzforderungen zu forcieren.

I. Urteile und Themen des Jahres 2023

1. Die erste Kopie der Patientenunterlagen ist kostenfrei!

Das Recht der Einsichtnahme in die Patientenakte ist in § 630g BGB geregelt: „Dem Patienten ist auf Verlangen unverzüglich Einsicht in die vollständige, ihn betreffende Patientenakte zu gewähren, soweit der Einsichtnahme nicht erhebliche therapeutische Gründe oder sonstige erhebliche Rechte Dritter entgegenstehen. Die Ablehnung der Einsichtnahme ist zu begründen. Der Patient kann auch elektronische Abschriften von der Patientenakte verlangen. Er hat dem Behandelnden die entstandenen Kosten zu erstatten…“ Während also Patientinnen und Patienten nach dem BGB grundsätzlich die Kosten für Kopien von Krankenunterlagen erstatten müssen, gibt Art. 15 DSG-VO (Datenschutzgrundverordnung) ihnen das Recht, die erste Kopie der Daten kostenlos zu erhalten. Es heißt dort in Absatz 3: „Der Verantwortliche stellt eine Kopie der personenbezogenen Daten, die Gegenstand der Verarbeitung sind, zur Verfügung. Für alle weiteren Kopien, die die betroffene Person beantragt, kann der Verantwortliche ein angemessenes Entgelt auf der Grundlage der Verwaltungskosten verlangen. Stellt die betroffene Person den Antrag elektronisch, so sind die Informationen in einem gängigen elektronischen Format zur Verfügung zu stellen, sofern sie nichts anderes angibt.“ Der Europäische Gerichtshof hat diesen Regelungskonflikt zugunsten der Datenschutzgrundverordnung gelöst (EuGH, Urteil vom 26.10.2023 - C‑307/22, NJW 2023/3481 ff). In der Folge wird nun die nationale Regelung des § 630 g BGB im Sinne der europarechtlichen DS-GVO auszulegen und durch den Gesetzgeber anzupassen sein, und zwar unabhängig davon, dass die elektronische Patientenakte ohnehin einen kostenfreien Zugriff auf wesentliche Patientendaten ermöglichen wird.

2. Patienten sind von der Haftung für eigene Fehler freizustellen, wenn ein gravierendes ärztliches Mitverschulden vorliegt.

Patientinnen und Patienten fokussieren nicht medizinisch. So hatte ein Patient die Einnahme blutverdünnender Medikamente verneint, weil er die Selbstmedikation hoher Dosen von Acetylsalicylsäure, Vitamin E und Enzympräparaten nicht unter Medikamente subsumierte. Der medizinische Sachverständige monierte insoweit nicht die Patientenangabe, sondern den Anamnesebogen. Das Oberlandesgericht Nürnberg (Urteil vom 15.02.2023, Az. 4 U 20/22) stellte nun eine Patientin von der Haftung für die rund 60.000 Euro teure Reparatur eines MRT frei, das wegen einer metallischen Bein-Orthese notabgeschaltet werden musste (Quench). Die Patientin hatte zwar trotz Fragen und Warnungen nicht auf die Orthese hingewiesen, ihre insoweit gegebene Haftung tritt aber gegenüber dem ärztlichen Verschulden zurück. Für das Gericht war insbesondere maßgebend, dass sich die Fragen auf Metallteile im Körper bezogen hatten, die Orthese optisch eindeutig erkennbar war, die Patientin mit „möglichen Unfällen“ keine solchen Folgekosten verbinden musste und dass, aus Sicht der Patientin, eine Untersuchung des Nackens nichts mit der Bein-Orthese zu tun hatte.

3. Patientenaufklärung: Behandelnde dürfen sich nicht auf Internetrecherchen von Patientinnen und Patienten verlassen!

Nach einer Nukleusaugmentation der Bandscheibe waren bei einem Patienten erhebliche Beschwerden verblieben. Er machte Schadenersatzansprüche unter anderem deshalb geltend, weil er über die Risiken der sich noch im experimentellen Stadium befindenden Methode nicht ausreichend aufgeklärt worden war. Diese Rüge hat das Landgericht Dortmund bestätigt (LG Dortmund, Urteil vom 17.08.2023 - 12 O 416/20). Aus dem Aufklärungsbogen gehen weder Vor- und Nachteile der Methode noch deren umstrittener Stand in der Wissenschaft hervor. Insbesondere steht der ärztlichen Haftung auch keine Vorkenntnis des Patienten entgegen. Eine Vorkenntnis der für die Einwilligung wesentlichen Umstände kann eine Aufklärung zwar entbehrlich machen, eine eigeninitiativ vorgenommene Recherche kann die gebotene schonungslose Aufklärung aber nicht ersetzen.

4. Die ärztliche Dokumentation muss rechtssicher und unangreifbar sein!

Dass die ärztliche Dokumentation revisionssicher sein muss, wurde bereits im Vorjahresrückblick dargestellt (BGHZ 2021, Az.: VI ZR 84/19: Einer unbemerkt änderbaren Dokumentation kommt schon von vorneherein keine Beweiskraft zu). Nunmehr hat der Bundesgerichtshof einen weiteren Aspekt diskutiert, der die Beweiskraft erschüttern kann (BGH v. 5.12.2023 - VI ZR 108/21). Trägt die Patientenseite Umstände vor, die den Indizwert der Dokumentation in Frage stellen, bleibt deren Beweiswert nur dann erhalten, wenn die Patienteneinwände nicht ernstlich in Betracht kommen. Diese Eindeutigkeit hat das Gericht im konkreten Fall nicht gesehen. Eine Beleghebamme hatte auf ein hochpathologisches CTG nicht reagiert, das entbundene Kind hat eine schwere Hirnschädigung. Die beteiligten Ärzte hatten den Sachverhalt in der Dokumentation so dargestellt, dass sie über den konkreten Verlauf nicht informiert schienen und die Beleghebamme die Alleinverantwortliche war. Das Gericht stellt dazu fest: „An dem erforderlichen Indizwert der Dokumentation fehlt es jedenfalls dann, wenn der Dokumentierende Umstände in der Patientenakte festgehalten hat, die sich zu Lasten des im konkreten Fall in Anspruch genommenen Mitbehandlers auswirken, und nicht ausgeschlossen werden kann, dass dies aus eigenem Interesse an einer Vermeidung oder Verringerung der eigenen Haftung erfolgt ist.“

5. Patientenaufklärung: Keine Sperrfrist zwischen Aufklärung und Einwilligung

Ein Patient war ordnungsgemäß über den etwaigen Umstieg von einer arthroskopischen Schulteroperation auf einen offenen Eingriff aufgeklärt worden. Auch der zeitliche Ablauf der Patientenaufklärung war korrekt. Der BGH (Urteil vom 21.11.2023 - VI ZR 380/22) stellt fest, dass § 630e Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 BGB keine vor der Einwilligung einzuhaltende "Sperrfrist" vorsieht, deren Nichteinhaltung zur Unwirksamkeit der Einwilligung führen würde. Der BGH führt damit sein Urteil vom 20.12.2022, Az. VI ZR 375/21, fort, in dem es heißt: „Zu welchem Zeitpunkt ein Patient seine Entscheidung über die Erteilung oder Versagung der Einwilligung trifft, ist seine Sache. Sieht er sich bereits nach dem Aufklärungsgespräch zu einer wohlüberlegten Entscheidung in der Lage, ist es sein gutes Recht, die Einwilligung sofort zu erteilen. Wünscht er dagegen Bedenkzeit, so kann von ihm grundsätzlich erwartet werden, dass er dies zum Ausdruck bringt und von der Erteilung einer - etwa im Anschluss an das Gespräch erbetenen - Einwilligung zunächst absieht. Eine andere Beurteilung ist - sofern medizinisch vertretbar - geboten, wenn für den Arzt Anhaltspunkte dafür gegeben sind, dass der Patient noch Zeit für seine Entscheidung benötigt.“ Aber Achtung: Der Aufklärungszeitpunkt als solcher ist so zu wählen, dass das Selbstbestimmungsrecht des Patienten gewahrt wird, also in der Regel schon bei der ersten Planung des Eingriffs.

6. Behandlungsverhältnisse generieren besondere Schutzpflichten.

Haftungsfälle außerhalb unmittelbarer Behandlungsmaßnahmen kommen immer wieder vor. Beispiele sind Stürze infolge Bodenglätte oder Anästhesiefolgen, Verletzungen an scharfen Gegenständen oder ungesicherten Spritzen und durch fehlerhafte Unterbringung oder Überwachung ermöglichte Suizide. Die allgemein geltende Fürsorgepflicht hat der Bundesgerichtshof (BGHZ v. 14.11.2023 - VI ZR 244/21) nun nochmals für einen Krankenhausträger betont: Es sind die notwendigen und zumutbaren Vorkehrungen zu treffen, um zu verhindern, dass sich ein für die stationär aufgenommene Patientin bestehendes „extrem hohes Sturzrisiko“ verwirklicht. Beim Mittagessen war sie von der Bettkante gestürzt und hatte sich eine Unterschenkelmehrfachfragmentfraktur zugezogen, welche zur Amputation des linken Beines führte. Der BGH sieht hier nur die Möglichkeit, durch eine klägerseits beantragte sachverständige Prüfung die Einhaltung der Sicherheitsstandards zu validieren. Dass die Vorgerichte dies nicht getan hatten, war eine Verletzung des rechtlichen Gehörs aus Art. 103 Abs. 1 GG.

7. Die Verweigerung des Rechtlichen Gehörs ist nicht hinzunehmen

BGH-Entscheidungen zum sogenannten „Rechtlichen Gehör“ finden sich in fast allen Entscheidungsjahren. Es geht regelmäßig darum, dass Arzt oder Patient etwas vorgetragen haben, was das entscheidende Gericht nicht zur Kenntnis genommen oder aus eigener Anschauung für irrelevant gehalten hat. Im Verfahren BGH VI ZR 371/21, Beschluss vom 12. September 2023, war die Einschaltung des höchsten deutschen Zivilgerichts aus ärztlicher Sicht erfolgreich. Die Vorinstanz hatte die angebotenen Zeugen nicht vernommen und „ohne weiteres“ den Vortrag der Eltern unterstellt, dass sie bereits bei der Aufnahme im Kreißsaal über zu Hause einsetzende Blutungen der Mutter berichtet hätten. Dies war von den Behandelnden mit einem Zeugen-Beweisangebot bestritten worden.

8. Zur medizinischen Indikation in der pränatalen Beratung

In § 218a StGB (Strafgesetzbuch) heißt es in Absatz 2: „Der mit Einwilligung der Schwangeren von einem Arzt vorgenommene Schwangerschaftsabbruch ist nicht rechtswidrig, wenn der Abbruch der Schwangerschaft unter Berücksichtigung der gegenwärtigen und zukünftigen Lebensverhältnisse der Schwangeren nach ärztlicher Erkenntnis angezeigt ist, um eine Gefahr für das Leben oder die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung des körperlichen oder seelischen Gesundheitszustandes der Schwangeren abzuwenden, und die Gefahr nicht auf eine andere für sie zumutbare Weise abgewendet werden kann.“  Die Rahmenbedingungen einer solchen medizinischen Indikation hat der BGH (Urteil VI ZR 295/20 vom 14. Februar 2023) nochmals klargestellt: „Bei der zu erwartenden Geburt eines schwerbehinderten Kindes und der hieraus resultierenden Lebenssituation müssen diese Belastungen so schwer sein, dass sie die Mutter überfordern und die Gefahr einer schwerwiegenden Beeinträchtigung ihres seelischen Gesundheitszustandes als so drohend erscheinen lassen, dass bei der gebotenen Güterabwägung das Lebensrecht des Ungeborenen dahinter zurückzutreten hat. … Auch wenn das Lebensrecht des Kindes dem Grunde einer zeitlichen Differenzierung der verfassungsrechtlichen Schutzpflicht nicht zulässt, sind bei der Abwägung zur Bestimmung der Voraussetzungen der medizinischen Indikation auch die Dauer der Schwangerschaft und die daraus resultierende besondere Situation für Mutter und Kind in den Blick zu nehmen. Dies gilt insbesondere, wenn es sich um ein lebensfähiges Kind einige Wochen vor der Geburt handelt."

9. „Poolärzte“

Honorartätigkeiten werden von den Gerichten als fragwürdig angesehen, wenn sie Anstellungsverhältnisse ersetzen und Sozialversicherungsbeiträge sparen sollen. In diesem Sinne hat das Bundessozialgericht 2019 Honorarärzte in Krankenhäusern als abhängig beschäftigt angesehen, weil sie kein unternehmerisches Risiko tragen, in die Arbeitsorganisation eingebunden sind, die Krankenhausressourcen nutzen und im Arbeitsalltag sogar Weisungen unterliegen (BSG, Urteil vom 04.06.2019, Az. B 12 R 11/18). Von daher überrascht die Entscheidung des BSG im Jahr 2023 Az. B 12 R 9/21 R) nicht, in welcher „Pool-Ärzte“ im vertragszahnärztlichen Notdienst nicht automatisch als selbstständig angesehen werden. Im konkreten Fall unterlag der Zahnarzt mit einer Notdiensttätigkeit aufgrund einer Beschäftigung der Versicherungspflicht, weil er in die Organisation der KZV eingegliedert war und ein festes Stundenhonorar erhielt. In der Folge könnte man also im Haftungsfall eine Freistellung zumindest diskutieren.

10. Patientenaufklärung zur Corona-Impfung

Im Dezember 2023 erschreckte der Medizinische Behandlungsverbund (MBV) -so der Eindruck des Autors aufgrund ärztlicher Anfragen- wohl über 70.000 Hausärzte mit dem Hinweis, dass sie als Impfende persönlich haften können, wenn es durch eine unzureichende Qualität der Impfstoffe zu einem Impfschaden kommt[i]. Das Paul-Ehrlich-Institut reagierte neben anderen[ii] unter dem 05.12.2023 mit dem Hinweis auf eine „Aktuelle Falschmeldung in der Aufmachung eines Rote-Hand-Briefs“ und begründete die ordnungsgemäße Herstellung von mRNA-Impfstoffen[iii]. Unabhängig von diesem Disput: Impfschäden können eine Staats-, Hersteller[iv]- und Behandlungshaftung auslösen[v]. Eine Haftung des Impfenden kommt in Betracht, wenn die Injektion nicht dem ärztlichen Standard genügt (wie fahrlässige Nervenverletzung, wissentliche Gabe eines nicht mehr verwendbaren Impfstoffes, Missachtung der Vorsichtsmaßnahmen hinsichtlich eines anaphylaktischen Schocks) und wenn ein Aufklärungsversäumnis vorliegt. Die einschlägige Patientenaufklärung ist anspruchsvoll und inhaltlich den jeweils neuesten Erkenntnissen anzupassen[vi]. Den rechtlichen Rahmen hat der Bundesgerichtshof bereits in BGHZ 144, 1[vii] gesetzt: „Der Senat hält daher daran fest, dass grundsätzlich auch über äußerst seltene Risiken aufzuklären ist. … Das gilt auch für öffentlich empfohlene Impfungen, bei denen die Grundimmunisierung der Gesamtbevölkerung zur Verhinderung einer epidemischen Verbreitung der Krankheit im öffentlichen Interesse liegt. In Fällen öffentlicher Impfempfehlung hat zwar durch die Gesundheitsbehörden eine Abwägung zwischen den Risiken der Impfung für den einzelnen und seine Umgebung auf der einen und den der Allgemeinheit und dem einzelnen drohenden Gefahren im Falle der Nichtimpfung auf der anderen Seite bereits stattgefunden. Das ändert aber nichts daran, dass die Impfung gleichwohl freiwillig ist und sich der einzelne Impfling daher auch dagegen entscheiden kann. Dieser muss sich daher nicht nur über die Freiwilligkeit der Impfung im Klaren sein …, sondern er muss auch eine Entscheidung darüber treffen, ob er die mit der Impfung verbundenen Gefahren auf sich nehmen soll oder nicht. Das setzt die Kenntnis dieser Gefahren, auch wenn sie sich nur äußerst selten verwirklichen, voraus; diese muss ihm daher durch ärztliche Aufklärung vermittelt werden.“

II. Ausblick 2024

1. Haftungsverschärfung?

Im Koalitionsvertrag[i] der regierenden Parteien aus 11/2021 heißt es: „Bei Behandlungsfehlern stärken wir die Stellung von Patientinnen und Patienten im bestehenden Haftungssystem.“ Seit dem Deutschen Juristentag 1978 gab es über 20 Initiativen und Arbeitsgruppen von der AG Patientenrechte bis zu Diskussionen auf EU-Ebene, die Haftung von Ärztinnen und Ärzten zu verschärfen. Im Ergebnis wurde die stets mit Hinweis auf die ausgewogene Rechtsprechung des 6. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs abgelehnt. Selbst das Patientenrechtegesetz von 2013 wurde schon nach zwei Jahren mit der verräterischen Begründung, die Zahl der Gerichtsverfahren wegen Behandlungsfehlern habe trotz Patientenrechtegesetz nicht zugenommen[ii], von der Politik in Frage gestellt, was auch im Hinblick auf die Spätschadenthematik der Arzthaftung absurd ist. Die Umsetzung des Koalitionsvertrages ist wegen rechtlicher Bedenken[iii] gegen die konkreten Vorschläge immer noch in der Diskussion.

2. Härtefallfonds?

Weiter heißt es im Koalitionsvertrag: „Ein Härtefallfonds mit gedeckelten Ansprüchen wird eingeführt“. Überlegungen zu einem Härtefallfonds gibt es schon seit Jahren, weil das rechtliche Alles-Oder-Nichts-Prinzip (der Patient hat Schadenersatzansprüche oder eben nicht) in bestimmten Konstellationen als ungerecht gesehen wird. Beispiel: Es liegt ein ärztlicher Fehler vor, dessen Kausalität für eine Gesundheitsverschlechterung des Patienten nicht nachweisbar ist. Als Muster dient verschiedentlich das österreichische System für Spitalpatienten[i]. Soweit ersichtlich, ist die Finanzierung eines solchen Fonds aber noch nicht gesichert.

3. Triage in der Notaufnahme?

Grundsätzlich dürfen Hilfesuchende nur in Notfällen in Kliniken behandelt werden; liegt kein Notfall vor, sind Hilfesuchende in die vertragsärztliche Versorgung zu leiten (§ 76 Abs. 1 Satz 2 SGB V). Im Hinblick auf überlastete Notaufnahmen[i] werden Modelle der Patientenauswahl[ii] diskutiert. Die entsprechend § 120 Abs. 3b SGB V[iii] durch den Gemeinsamen Bundesausschuss erarbeitete Richtlinie zur Ersteinschätzung wurde unter dem 12.09.2023 durch das Bundesministerium für Gesundheit beanstandet und ist neu zu fassen[iv]. Im Gutachten „Haftungsrechtlicher Rahmen des Einsatzes von Ersteinschätzungsverfahren im Krankenhaus vor dem Hintergrund von § 120 Abs. 3b SGB V“[v]“ wird eine medizinische Ersteinschätzung durch Nichtärzte und digitale Unterstützung für haftungsrechtlich möglich gehalten.[vi]

Der Verzicht auf eine ärztliche Ersteinschätzung begegnet aber erheblichen Bedenken:

  1. Die Notfallbehandlung im Krankenhaus ist kein Sonderfall einer Patientenbehandlung mit reduzierter Haftung. Unabhängig von organisatorischen Zuständigkeiten (Krankenhaus/Chefarzt/ermächtigter Arzt) haben Patienten und Patientinnen einen Anspruch auf eine Behandlung und damit auch auf eine Ersteinschätzung nach Facharztstandard (§ 630a BGB). Die Übertragung der Ersteinschätzung auf Pflegepersonal ist anhand von Delegationskriterien zu prüfen.
  2. Ärztliche Verantwortung kann man nicht delegieren. Eine vertikale, hierarchische Delegation ist nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich. Sie ist eine Ausnahme von der Regel, dass Ärztinnen und Ärzte grundsätzlich zur persönlichen Leistungserbringung verpflichtet sind (§ 613 Satz 1 BGB, § 19 Abs. 1 MBO-Ä, § 32 Abs. 1 Ärzte-ZV). Deshalb ist nicht nur der Auswahl- und Überwachungspflicht nachzukommen, sondern auch die Verantwortbarkeit zu wahren. Die Delegation auf nichtärztliches Personal darf nur dann erfolgen, wenn die Aufgabe nicht dem Arzt vorbehalten ist (BGHZ VI ZR 72/74). Originäre ärztliche Aufgaben sind nicht delegierbar. Hierzu gehören insbesondere die Anamnese, Untersuchungen, die Diagnose, die Therapie einschließlich der Verschreibungen sowie Arzt-Patientengespräche (§ 630c BGB). Hiervon in der Notaufnahme durch Vorschalten eines Auswahlverfahrens abzuweichen, birgt für Patientinnen und Patienten ein hohes Risikopotential. Hieran ändert auch die KI-Unterstützung ersteinschätzender Nichtärzte nichts: Der Mensch ist keine Maschine, der anhand der Checkliste einer Werkstatt behandelt werden kann.
  3. Schon im ärztlichen Bereich gibt es Diagnose- und Befunderhebungsfehler in der Notaufnahme. Diese könnten sich bei Verzicht auf eine ärztliche Validierung der Behandlungsnotwendigkeit potenzieren. Fallbeispiele: Hat der Patient nun eine Subarachnoidalblutung oder einfach zu viel Alkohol getrunken? Ist die Schnittverletzung so tief, dass es zu einer Sehnenbeteiligung gekommen ist? Ist die harmlos aussehende Wadenschwellung der Vorbote einer Lungenembolie? Ist Ursache der Rückenbeschwerden ein Herzinfarkt? Aggraviert der kleine Patient oder liegt eine Fraktur vor?
  4. Die im Gutachten angesprochene Fernbehandlung eignet sich nicht zur Relativierung des Haftungsrisikos. Der 121. Deutsche Ärztetag hat sie zwar durch § 7 Abs. 4 der ärztlichen (Muster-)Berufsordnung (MBO-Ä) ermöglicht, nach wie vor ist aber der persönliche Arzt-Patienten-Kontakt der „Gold-Standard“. In diesem Sinne heißt es in § 7 der von den Landesberufsordnungen übernommenen Musterberufsordnung: „Eine ausschließliche Beratung oder Behandlung über Kommunikationsmedien ist im Einzelfall erlaubt, wenn dies ärztlich vertretbar ist und die erforderliche ärztliche Sorgfalt insbesondere durch die Art und Weise der Befunderhebung, Beratung, Behandlung sowie Dokumentation gewahrt wird.“
  5. Und schließlich kann die Nichtbehandlung von Notfallpatientinnen und -patienten mit akuter Behandlungsbedürftigkeit zu einer Strafbarkeit wegen § 323c StGB[vii] (unterlassene Hilfeleistung) führen. Der für die strafrechtliche Verantwortlichkeit notwendige zumindest bedingte Vorsatz ist immer dann gegeben, wenn der Taterfolg zumindest für möglich gehalten und billigend in Kauf genommen wird.

Autor: Patrick Weidinger, Rechtsanwalt, Deutsche Ärzteversicherung

Literatur:

10. Patientenaufklärung zur Corona-Impfung

[i] https://corona-impfschaden-hilfe.de/wordpress/wp-content/uploads/2023/12/Information-alle-Hausaerzte.pdf

[ii] https://www.hausarzt-bw.de/01-Content/Angebote/MMK-Benefits/18_Irref%C3%BChrende%20Warnung%20vor%20COVID-19-mRNA-%20Impfstoffen/Irref%C3%BChrende%20Warnung%20vor%20COVID-19-mRNA-%20Impfstoffen.pdf

[iii] https://www.pei.de/SharedDocs/Downloads/DE/newsroom/mitteilungen/231205-falschmeldung-rote-hand-brief-mrna-impfstoffe.pdf?__blob=publicationFile&v=8

[iv] Hierzu klageabweisend LG Mainz Az. 1 0 122/29, https://openjur.de/u/2480396.html

[v] Weidinger, Corona-Impfung und Risikoaufklärung, PaPfleReQ (2021) Heft 3/4 29

[vi] Gebauer und Gierhake, Ärztliche Aufklärung bei Behandlungen mit bedingt zugelassenen mRNA-Impfarzneien, NJW 2023, 2231ff.

[vii] https://openjur.de/u/64765.html

1. Haftungsverschärfung?

[i] Vom Autor diskutiert in Fortbildungsvorträgen für die Rechtsanwaltskammer München am 26.04.2022 und für den Kölner Anwaltverein am 02.06.2022

[ii] https://www.spiegel.de/gesundheit/diagnose/behandlungsfehler-gruene-fordern-mehr-patientenrechte-a-1023731.html (Internet-Aufruf am 03.01.2022)

[iii] Zur Diskussion siehe https://www.aerztezeitung.de/Wirtschaft/Aerztliche-Behandlungsfehler-Wer-soll-was-wie-beweisen-434875.html

2. Härtefallfonds?

[i] Zu den Grundlagen siehe: https://www.bundestag.de/resource/blob/568208/5711f5ff63dbd090f67b33b32c7dc585/WD-9-047-18-pd-data.pdf

3. Triage in der Notaufnahme?

[i] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/140310/Ueberlastete-Notaufnahmen-im-Fokus und https://www.dkgev.de/fileadmin/default/Mediapool/2_Themen/2.2_Finanzierung_und_Leistungskataloge/2.2.4._Ambulante_Verguetung/2.2.4.4._Ambulante_Notfallvehandlung_durch_Krankenhaeuser/2015-02-17_Gutachten_zur_ambulanten_Notfallversorgung_im_Krankenhaus_2015.pdf

[ii] https://www.welt.de/politik/deutschland/article249567324/Lauterbach-plant-Reform-fuer-ueberfuellte-Notaufnahmen-Hausaerzte-sind-skeptisch.html

[iii] „Der Gemeinsame Bundesausschuss beschließt bis zum 30. Juni 2023 eine Richtlinie, die Vorgaben zur Durchführung einer qualifizierten und standardisierten Ersteinschätzung des medizinischen Versorgungsbedarfs von Hilfesuchenden, die sich zur Behandlung eines Notfalls nach § 76 Absatz 1 Satz 2 an ein Krankenhaus wenden, beinhaltet. Dabei ist auch das Nähere vorzugeben 1. zur Qualifikation des medizinischen Personals, das die Ersteinschätzung vornimmt, 2. zur Einbeziehung ärztlichen Personals bei der Feststellung des Nichtvorliegens eines sofortigen Behandlungsbedarfs, 3. zur Form und zum Inhalt des Nachweises der Durchführung der Ersteinschätzung … 5. zur Weiterleitung an Notdienstpraxen gemäß § 75 Absatz 1b Satz 3…“

[iv] https://www.aerzteblatt.de/nachrichten/145912/Gesundheitsministerium-beanstandet-G-BA-Richtlinie-zur-Ersteinschaetzung-im-Notfall

[v] https://www.zi.de/fileadmin/Downloads/Service/Gutachten/Gutachten-Waltermann_01-2024.pdf

[vi]  https://www.zi.de/das-zi/medien/medieninformationen-und-statements/detailansicht/hilfesuchende-duerfen-nur-in-notfaellen-in-kliniken-behandelt-werden-liegt-kein-notfall-vor-sind-hilfesuchende-in-eine-praxis-zu-leiten-medizinische-ersteinschaetzung-haftungsrechtlich-ohne-aerztliche-pruefung-moeglich vom 15.01.2024

[vii] „(1) Wer bei Unglücksfällen oder gemeiner Gefahr oder Not nicht Hilfe leistet, obwohl dies erforderlich und ihm den Umständen nach zuzumuten, insbesondere ohne erhebliche eigene Gefahr und ohne Verletzung anderer wichtiger Pflichten möglich ist, wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe bestraft. …“