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Eine Erfolgsgeschichte

50 Jahre Deutsche Balintgesellschaft

50 Jahre Deutsche Balintgesellschaft

Wie konnte sich die Idee des ungarischen Arztes Michael Balint, die Arzt-Patient-Beziehung in den Fokus zu nehmen, so intensiv entwickeln und über die Welt verbreiten?

In 26 Ländern gibt es inzwischen nationale Balintgesellschaften, die in einer Internationalen Balint Föderation (IBF, gegründet 1975) vereint sind, sich gegenseitig unterstützen, alle 2 Jahre zu einem Kongress zusammen finden und die Grundidee weiterentwickeln.

Am 26. Januar 1974 gründeten 8 Ärzte (Hausärzte und Psychiater) in einem kleinen Ort in Niedersachsen die Deutsche Balintgesellschaft e. V. Sie folgten damit dem Beispiel von Kollegen in Frankreich (1967), England (1969), Italien (1971) und Belgien (1971), wo bereits nationale Gesellschaften gegründet worden waren. Anregung gab es aus dem 1957 in England erschienenen und 1957 ins Deutsche übersetzte Buch „Der Arzt, sein Patient und die Krankheit“, in dem Balint seine Forschungsergebnisse zu der Arbeit mit einer Gruppe Britischer Allgemeinärzte in London veröffentlichte.

Die Droge Arzt mit Wirkung und Nebenwirkung“ war Balints These, die untersucht werden wollte. Und die „Psychologisierung des Arztens“ ein Ziel, um den Patienten in seiner bio-psycho-sozialen Dimension zu verstehen und zu behandeln. Die Praktische Medizin mit den Erkenntnissen der Psychoanalyse zu verbinden, war Balints Anliegen.

In Deutschland wurde die erste psychosomatische Universitätsklinik 1950 unter Alexander Mitscherlich in Heidelberg gegründet. 1962 folgte in Gießen die Einrichtung eines Lehrstuhls für Psychosomatik. So hielt die Psychosomatische und die Somatopsychische Betrachtungsweise von Krankheit Einzug in die Ausbildung der Mediziner (das bio-psychosoziale Modell). Und es lag der Schluss nahe, auch die praktizierenden Ärzte in dieser Betrachtungsweise zu schulen.

Balint hatte die Erfahrung gemacht, dass Lehrveranstaltungen nicht zu der gewünschten Veränderung in der täglichen Arbeit mit Patienten führten. Zusammen mit seiner Frau Enid entwickelte er eine Form der Gruppenarbeit, in der die Teilnehmer ihre eigenen Patienten vorstellen und über diese professionelle Beziehung in der Gruppe reflektieren können. Sowohl die Persönlichkeit des Patienten als auch die des Arztes bedingen die Beziehung. Selbsterkenntnis und Verständnis für den Patienten wurden so in der Gruppe erarbeitet.

Mit diesem Fokus war ein wesentlicher Veränderungsprozess eingeleitet. War die Medizin bis dahin patriarchal geprägt – der Arzt war der Wissende, der den Patienten untersuchte, beriet und erwartete, dass seine Anordnungen unbedingt befolgt wurden – so lief die Betrachtung der Beziehung in der Balintgruppe darauf hinaus, dass Arzt und Patient auf Augenhöhe in Kontakt stehen. „Die Grundfigur der Medizin ist ein Mensch in Not und ein Mensch als Helfer“ wie Victor von Weizsäcker (1886 – 1957) dies formulierte. Der Arzt ist nicht der „Halbgott in Weiß“, sondern der Mensch, der dem anderen zuhört und ihn empathisch begleitet.

Hausärzte waren in den 1970er Jahren – zur Zeit der Gründung der Balintgesellschaft – die Begleiter für ihre Patienten, für ganze Familien oft ein Leben lang. Sie hatten Einblicke in die familiären, sozialen, materiellen Hintergründe, lernten die Patienten und ihr Umfeld bei Hausbesuchen kennen, waren oft Berater über die körperlichen Beschwerden hinaus. Das war nicht selten eine hohe Herausforderung und Verantwortung. Das Training, für das die Balintarbeit gedacht ist, nimmt hier eine wichtige Aufgabe wahr.
Mit dem besseren Verständnis für die Patienten, für ihre Anliegen und Beschwerden werden die Ärzte in ihrer Kompetenz gestärkt und gleichzeitig entlastet. In der Gruppenarbeit können sie erfahren, dass ähnliche Probleme auch bei anderen Kollegen auftauchen, bekommen ein Feedback für ihre eigene Arbeit, lernen neue Lösungsmöglichkeiten kennen und erweitern ihre Sichtweise durch andere Perspektiven.

Zunächst also waren vor allem die Hausärzte in diese Arbeit eingebunden. Als im Februar 1975 die erste Wochenendtagung der Deutschen Balintgesellschaft in Hahnenklee angeboten wurde, fanden sich 100 Kollegen dort ein – ein deutliches Zeichen, dass der Bedarf nach dieser Art des Austausches bei den Ärzten vorhanden war.

Die Anzahl der Mitglieder der Balintgesellschaft stieg rasch an. 1979 waren es 152, nach der Zusammenlegung der beiden Gesellschaften Ost und West konnte 1994 das 1000. Mitglied begrüßt werden. Balinttagungen werden in immer mehr Orten abgehalten. Balintarbeit ist in die Psychotherapietagungen in Lindau, Langeoog, Lübeck integriert. Es werden zunehmend Leiter-Ausbildungsseminare angeboten.

In der DDR entwickelte Balintarbeit sich parallel seit den 1980er Jahren als „Problemfallseminare“. 1987 war ein erstes gesamtdeutsches Treffen in Erfurt zur Balintarbeit möglich. Am 27.09.1990 wurde die „Balintgesellschaft der DDR“ gegründet schon mit dem vorausschauenden Gedanken, dass nach der Vereinigung der beiden deutschen Staaten auch ein Zusammenschluss der beiden Balintgesellschaften möglich werden sollte. Und so kam es im Februar 1991 zunächst zur Zusammenarbeit der beiden Vorstände in Hahnenklee. Verhandlungen zu den Bedingungen der Vereinigung wurden eingeleitet. Im Februar 1992 wurde dann ein gesamtdeutscher Vorstand gewählt. Ein Knackpunkt der Verhandlungen war die Integration der Psychologen. In der DDR hatten die Psychologen einen Fort- und Weiterbildungsauftrag für Mediziner und waren in die Balintgesellschaft gleichwertig eingeschlossen. Die DBG war bis dahin eine rein ärztliche Gesellschaft. Dies wurde mit dem Zusammenschluss verändert. Psychologische Balintgruppenleiter wurden als Mitglieder akzeptiert und ein Curriculum zur Ausbildung für Psychologen als Balintgruppenleiter entwickelt. Dies ist heute Standard. Inzwischen gibt es etwa 50 anerkannte psychologische Balintgruppenleiter von insgesamt knapp 700 von der Deutschen Balintgesellschaft ausgebildeten und bei den Ärztekammern akkreditierten Balintgruppenleitern.

War Balint anfangs skeptisch, ob diese Art der Gruppenreflexion auch für Psychiater geeignet sei – er sah diese Berufsgruppe zunächst nur in der Gruppenleiterposition – so zeigte sich alsbald ein großes Interesse. Psychiater, Psychoanalytiker und Psychotherapeuten entdeckten dieses Verfahren als sehr hilfreich für sich sowohl bei der Bewältigung von Problemen mit ihren Patienten, als auch zur Diagnosenstellung. Balintarbeit ist heute in der Facharztweiterbildung verpflichtend.

Auch weitere Fachärzte machen sich die Balintgruppen zunutze. Zahlenmäßig sind mehr und mehr Patienten mit psychosomatischen Reaktionen in vielen Fachbereichen der Medizin anzutreffen. Zunehmend sind heute Zahnmediziner an der Balintarbeit interessiert, haben doch auch sie mit den verschiedensten psychischen Problemen bei ihren Patienten zu tun.

1979 nahmen erstmals Studenten an der Balinttagung in Hahnenklee teil. An einigen Medizinischen Fakultäten wird Balintarbeit heute im Studium angeboten. Ein Internationaler Balint-Preis (Ascona-Preis) für Medizinstudenten, die ihre ersten Erfahrungen oder Begegnungen mit Patienten in einem Aufsatz reflektieren, wird alle 2 Jahre von der „Internationalen Stiftung Psychosomatik und Sozialmedizin“ auf den Kongressen der IBF verliehen. Bereits 1976 erfolgt die Aufnahme der Deutschen Balintgesellschaft in die „International Balint Federation (IBF)“. Seither haben ihre Mitglieder intensiv an der Unterstützung der Balintarbeit im Internationalen Raum mitgewirkt.

„Um eine geteilte Entscheidungsfindung zu ermöglichen,
bedarf es des einander Zuhörens und des »Hörens mit dem Dritten Ohr«“
Michael Balint

Ein wichtiger Schritt war die Einführung der Psychosomatischen Grundversorgung mit Integration der Balintarbeit in die Weiterbildungsordnung für verschiedene Facharztgruppen 1987. Balintarbeit zur Pflichtveranstaltung zu machen, war durchaus nicht unumstritten. Balint hatte ein Auswahlverfahren zur Aufnahme von Teilnehmern in seine Gruppe entwickelt. In einer Untersuchung stellte er fest, dass ausgewählte Ärzte mehr von der Gruppenarbeit profitierten als solche, die ohne Auswahlverfahren in die Gruppe kamen. Die heutige Praxis zeigt, dass viele Kollegen die Arbeit im Laufe des halben Jahres Pflicht-Balintgruppe sehr zu schätzen lernen und weiterhin für sich nutzbar machen.

Unsere Landschaft der Medizinischen Versorgung hat sich seit den 1970er Jahren verändert. Sowohl die technische Medizin als auch die Pharmakotherapie haben sich rasant weiter entwickelt. Das Internet bietet mit seinen Portalen viele Möglichkeiten für Patienten, sich breit zu informieren. Die Komplexität des Wissens und unserer Welt kann sowohl Ärzte als auch Patienten überfordern. Aus dem patriarchalen System ist eine Partnerschaft geworden, aus den Direktiven wird das „shared decision making“, die geteilte Entscheidungsfindung. Dieses Vorgehen braucht Zeit, die wir oft nicht haben oder uns nicht nehmen. Um eine geteilte Entscheidungsfindung zu ermöglichen, bedarf es des einander Zuhörens und des „Hörens mit dem Dritten Ohr“ (M. Balint). Als Arzt muss ich zunächst einmal die Erkenntnisse und Vorstellungen des Patienten von seinem Körper und seiner Krankheit verstehen. Haben wir als Ärzte uns eine anatomisch-physiologische Grundeinstellung zum Körper angeeignet, so kommt der Patient möglicherweise mit ganz eigenen Fantasien zu seiner Krankheit zu seinem Funktionsdefizit. Wenn wir dies nicht berücksichtigen, dann scheitert oft der Versuch, den Patienten zur Compliance, zur Mitarbeit zu gewinnen. In der Balintgruppenarbeit wächst die Einsicht in diese Erkenntnisse.

Eine gewisse Verschiebung des Fokus hat sich in den 50 Jahren Balintarbeit ergeben. War das Anliegen von M. Balint zunächst vor allem die „Psychologisierung des Arztens“, der Erkenntnisgewinn des Arztes bezüglich der möglichen psychosomatischen Hintergründe eines Symptoms, sowie seiner Wirkung als Person auf Diagnose und Therapie, so ist heute die Entlastung der Gruppenteilnehmer ebenso ein Ziel der Arbeit.

„Psychohygiene“ ist ein wichtiger Teil der Balintarbeit geworden. Ärzte stehen heute unter großem Arbeits- und Erfolgsdruck. Die Bürokratie nimmt viel Raum ein. Sie sind Zweifeln bis Anfeindungen ausgesetzt. „Habe ich alles richtig gemacht?“ ist eine drängende Frage, die bei der Komplexität der Aufgabe nicht immer leicht zu beantworten ist. Es reicht nicht, das Beste gegeben zu haben – „a good enough doctor“ zu sein – es droht die Anklage, der Nachweis eines Versäumnisses, eines Versagens. Bei hoher Arbeitsbelastung wächst die Angst vor Unzulänglichkeiten. In der Balintgruppe kann hier Entlastung und Unterstützung geboten werden. Angst ist immer ein schlechter Ratgeber; Verständnis und Anteilnahme helfen, diese zu reduzieren. Dies gilt für Patienten gleichermaßen.

Die Balintgruppe bietet Entlastung für Ärzte in einer zunehmend unsicheren, fordernden, komplexen Umwelt. So wird immer wieder berichtet, dass die Unzufriedenheit der niedergelassenen Ärzte zunimmt und die medizinische Versorgung vor allem auf dem Lande gefährdet ist. Immer weniger Mediziner lassen sich dort nieder.

Eine weitere Veränderung auch für die Balintgruppenarbeit ergibt sich daraus, dass wir es in der Praxis heute in Deutschland – so wie auch in vielen anderen Ländern der Welt – mit einer Durchmischung der Kulturen zu tun haben. Sowohl auf Seiten der Kollegen als auch bei den Patienten finden wir heute in unserem Land Menschen aus vielen unterschiedlichen Herkunftsländern mit unterschiedlichen Traditionen, Religionen, Philosophien, Lebenseinstellungen. Das ist hochspannend und interessant, erfordert aber in der Beziehungsgestaltung neue Kenntnisse und Fähigkeiten des Zuhörens und Verstehens. Auch Balintgruppen sind heute vielfach multikulturell. Sehr hilfreich ist, wenn ein Patient aus einem Land vorgestellt wird, aus dem auch eines der Gruppenmitglieder kommt. Er/Sie kann uns helfen, die Hintergründe zu verstehen, die besonderen Reaktionen auf Angebote des Arztes zu akzeptieren, vielleicht Kompromisse zu finden. Missverständnisse führen zu Frustration, Ärger, Ungerechtigkeit, aggressivem Verhalten auf beiden Seiten. Hier kann die Balintgruppenarbeit Vorurteile und Ängste nehmen und einen wichtigen Beitrag zum gegenseitigen Verständnis leisten.

Wichtig noch zu erwähnen, dass sich die Balintarbeit verändert hat durch Hinzunahme neuer Techniken aus der psychotherapeutischen und systemischen Arbeit. So können Rollenspiel, Imagination, Skulpturarbeit, Psychodrama und Musik fruchtbar in die analytische Arbeit eingefügt werden. Das macht die Arbeit lebendig, oft leichter zugänglich und führt zu intensivem Erleben. Die Schwierigkeiten in den vorgestellten Beziehungen werden bildhaft, Emotionen verständlich. Ich gehe davon aus, dass Balint – der sehr innovativ und experimentierfreudig war – diese Ausgestaltung seiner Methode wohlwollend zur Kenntnis nehmen würde.

Seit dem Jahr 2000 erscheint im Thieme-Verlag das Balint-Journal, das sowohl Berichte aus den verschiedenen Bereichen der Balintarbeit als auch Originalarbeiten und Ergebnisse aus der internationalen Forschung zur Balintarbeit vermittelt und dieses Jahr sogar erstmalig einen Impact Factor verzeichnen konnte.

Die Deutsche Balintgesellschaft hat sich für weitere Berufsgruppen und damit weitere professionelle Beziehungen geöffnet. Neben den medizinischen Berufen, den sogenannten helfenden Berufen, wie Pflegepersonal und Sozialarbeiter, sind Apotheker, Lehrer, Pfarrer, Juristen, Polizisten und andere mehr an der Beziehungsarbeit in Balintgruppen interessiert und profitieren von der Beziehungsdiagnostik mit ihren Erkenntnissen über sich selbst – dem Selbsterfahrungsanteil – sowie dem Training zur Empathie, zum Perspektivwechsel und damit zum besseren Verständnis des Gegenübers.

Dr. med. Heide Otten
Fachärztin für Psychotherapeutische Medizin
Geschäftsführerin der Deutschen Balintgesellschaft (1992 – 2013)
Präsidentin der International Balint Federation (2001 – 2007)
Stiftungsratsmitglied der Internationalen Stiftung
Psychosomatik und Sozialmedizin

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