Diese Frage beantwortet der profilierte britische Naturschriftsteller Robert Macfarlane aus Cambridge mit einem überzeugten Ja am Anfang seines Buches. Er braucht dann aber mehr als 400 eng beschriebene Seiten, um seiner Überzeugung Nachdruck zu verleihen durch Naturschilderungen, Erlebnisberichte und vielfältige Reflexionen im Ergebnis weiter Reisen resp. Expeditionen an Quellen seines umfassenden Wissens zu Wasser und Flüssen.
Den Kern des Buches stellen drei Expeditionsgeschichten an Flüsse dar, die dem durchschnittlichen Europäer gemeinhin fremd sein dürften und anhand deren er Wasser neu zu denken gefordert ist.
Der erste Bericht widmet sich dem Rio Los Cedros, einem Wasserlauf, gebirgig hoch im Nebelwald der nördlichen Anden Ecuadors. R. M. wird begleitet und unterstützt von kundigen Freunden dieses bedrohten Habitats einer enormen Biodiversität an fremdartiger Flora und Fauna. Besonders beeindrucken ihn die epiphytären Lebensformen des Nebelwaldes, nicht zu verwechseln mit dem Regenwald. Dieses Paradies ist jedoch gefährdet. Denn es fußt auf Gold. Die Gier danach hat planerische Gestalt angenommen. Aber es gibt zähe Kämpfer gegen die Zerstörung des Flusses wegen seiner verborgenen Schätze im wasserspendenden Nebel der Anden.
Ein gänzlich anderes Fließgesicht erschließt sich am Fluss Adyar, dem der forschende Autor auf dem indischen Subkontinent nachgeht, im dicht bevölkerten Bundesstaat Tamil Nadu, in der Industriemetropole Chennai. Der Adyar mündet dort in den Golf von Bengalen. Trotz seiner sehr starken ökologischen Belastung durch die Abwässer der Millionenstadt spielt er eine wichtige Rolle für die regionale Vogelwelt und für die Aufnahme der Sintflut des Monsuns aus dem Hinterland. Eine anspruchsvolle Funktion des kaum noch fließenden, fast stehenden Gewässers ist die Entsorgung der wohnenden und produzierenden Zivilisation von Abwässern und Abfällen. Der Fluss wird zur Kloake. Aber auch dort gibt es Kämpfer, die etwas dagegen tun, weil sie den Tod des Flusses nicht akzeptieren wollen. Ihre Erfolge sind bescheiden.
Schließlich begibt sich R. M. mit Gleichgesinnten an einen wilden Fluss im borealen Wald im Norden Kanadas. Sie setzen ihre Kanus dort in der Taiga in den noch frei fließenden Mutehekau Shipu/Magpie-River, der sich in den Sankt-Lorenz-Strom ergießt. Sie lassen sich von ihm unter Führung erfahrener Flusskämpfer, stürzend, kenternd, gefährlich durchgewirbelt und ruhig getragen bis an ihre Etappenziele mitnehmen, hingerissen zwischen Abenteuer und Lebensgefahr, beeindruckt von der erlebten Natur. Eine meist unsichtbare Tierwelt begleitet sie lautstark in den Uferwäldern. Aber auch dieser Fluss ist gefährdet durch die Pläne großer Konzerne, seine ursprüngliche Kraft in Profit umzusetzen. Ausufernde Stauprojekte zur Bändigung seines wilden Mäanderns liegen zur Umsetzung bereit. Es sind die regionalen Indigenen, die den Fortgang der Zerstörung lebendiger Natur bisher verhindern konnten.
Keine Frage, Flüsse sind, wo man sie lässt, sehr lebendig. Der Drang, sie zu töten, scheint unbändig. Robert Macfarlane ist einer ihrer Anwälte und setzt sein Talent und seinen Einfluss für das Leben der Flüsse und den Kampf gegen ihre tödliche Ausbeutung sprachgewaltig ein. Allein schon der Ausdruckstärke der Texte gebührt großer Respekt, der Übersetzung ebenfalls. Dass er sich angesichts seiner Befassung mit dem lebendig Fließenden immer am Rande einer animistischen Sicht bewegt, kann nicht verwundern. Aber einen gewissen britischen Humor wird man ihm nicht absprechen, wenn er z. B. feststellt: Bewegen wir uns fort, sind wir Flüsse. Wenn wir sitzen sind wir Tümpel.
Sind nun Flüsse Lebewesen? Rational betrachtet: Nein, emotional: Ja. Wir brauchen sie frei und lebendig, sagt uns das Buch. Panta rhei!
F.T.A. Erle, Magdeburg (August 2025)