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Themen ärztlicher Haftung

Arzthaftpflicht – Jahresrückblick 2024

Arzthaftpflicht – Jahresrückblick 2024

Während die Gerichte die Haftungsregeln weiterentwickelt und konkretisiert haben, sind mit dem Ende der Ampelkoalition die politischen Vorhaben einer Haftungsverschärfung und eines Patientenentschädigungsfonds einstweilen vom Tisch. Gleichwohl gibt es seit 2024 veränderte Rahmenbedingungen, die man kennen sollte.

Durchgangsarzt

Passiert dem Durchgangsarzt ein Behandlungsfehler, ist regelmäßig zu prüfen, ob die Berufsgenossenschaft haftet oder der Behandelnde persönlich. Nach ständiger Rechtsprechung ist die Erstversorgung durch den Durchgangsarzt eine öffentlich-rechtliche Aufgabe, so dass nach Art. 34 Satz 1 des Grundgesetzes der Staat oder die Körperschaft und nicht der Arzt haftet. Allerdings: Die spätere ärztliche Heilbehandlung nach einem Arbeitsunfall ist keine der Berufsgenossenschaft obliegende Aufgabe. Die Abgrenzung dieser beiden Bereiche hat immer wieder zu Diskussionen geführt. Der Bundesgerichtshof (Urteil vom 30.06.2024, Az. VI ZR 115/22)1 hat nun seine Kriterien weiterentwickelt.

Der vorliegende Fall: Um 15.20 Uhr war die zum damaligen Zeitpunkt achtjährige Klägerin auf dem Schulhof gestürzt und anschließend in Begleitung ihrer Mutter in die Klinik der Beklagten gekommen. Dort wurde nach einer Röntgenuntersuchung die Diagnose einer distalen Unterarmfraktur rechts mit dorsaler Abkippung gestellt. Gegen 17.00 Uhr fand ein Aufklärungsgespräch mit der Klägerin und ihrer Mutter zur geplanten operativen Knochenbruchbehandlung statt. Um ca. 20.00 Uhr wurde die Narkose eingeleitet, kurz danach mit der Operation begonnen, und um 22.45 Uhr wurde die Klägerin auf die Normalstation verlegt. Bei der Operation wurde ein die Wachstumsfuge kreuzender sogenannter Kirschner-Draht zur Fixierung und Stabilisierung eingebracht. Aufklärung und Operation sollen fehlerhaft gewesen sein, im Streit ging es nun darum, ob die BG oder der Durchgangsarzt der richtige Ansprechpartner ist.

Hierzu der BGH: „Die der öffentlich-rechtlichen Amtsausübung des Durchgangsarztes zuzuordnende Erstversorgung findet regelmäßig zeitlich vor dessen Entscheidung über die Art der Heilbehandlung statt. Davon zu unterscheiden sind Maßnahmen, die zeitlich nach und in Vollzug der Entscheidung über die Art der Heilbehandlung durchgeführt werden und grundsätzlich als privatrechtliches Handeln des Durchgangsarztes zu qualifizieren sind. Gemessen daran lag die Operation der Klägerin nicht mehr im Rahmen des sofort Notwendigen, auch wenn sie von der Beklagten als "Notoperation" bezeichnet worden ist. Gegen eine Qualifikation der Operation als Maßnahme der Erstversorgung spricht bereits der Zeitablauf zwischen dem Eintreffen der Klägerin in der Notaufnahme der Beklagten und dem Beginn der Operation. Dass der Unfallversicherungsträger Hauptkostenträger der ärztlichen Behandlung war, ist für die Frage nach dem Umfang der Erstversorgung nicht von Bedeutung. Damit kommt grundsätzlich eine persönliche Haftung in Betracht.

Kontroll- und Hinweispflichten

Dass die unterbliebene Dokumentation dringender ärztlicher Hinweise zur Haftung führen kann, ist seit langem anerkannt. So hat der Bundesgerichtshof einen Verstoß gegen die Pflicht zur therapeutischen Information in den Fällen angenommen, in denen der Patient zwar über das Vorliegen eines kontrollbedürftigen Befundes unterrichtet und zur Wiedervorstellung aufgefordert worden, ihm aber der Grund der Einbestellung und die Dringlichkeit dieser nicht erläutert worden war.

Eine hinsichtlich der Zurechnung von Schadenfolgen noch strengere Haftung hat der BGH nun daraus hergeleitet, dass er in einem konkreten Fall die Kontrollpflicht unter den Begriff des Befunderhebungsfehlers subsumiert hat (BGH, Urteil vom 04.06.2024, Az. VI ZR 108/23)2. Der Kläger wurde in der 25. Schwangerschaftswoche geboren und in der Klinik versorgt. Weil sich die Gefäße in der Netzhaut vom Sehnerv in die Peripherie ausbilden und dies erst mit dem regulären Geburtstermin abgeschlossen ist, besteht bei Frühgeborenen ein besonderes Risiko für eine gestörte Blutgefäßentwicklung der Netzhaut (Frühgeborenen-Retinopathie) mit einer Netzhautablösung. Mehrere augenärztliche Untersuchungen ergaben keine Hinweise auf eine Frühgeborenen-Retinopathie. Am 31. Oktober wurde der Kläger aus der stationären Behandlung entlassen. Der errechnete reguläre Geburtstermin wäre der 10. November gewesen. Laut Entlassungsbrief empfahl die Beklagte eine Kontrolle in drei Monaten. Am 24. November wurde beim Kläger in der Universitätsklinik K. eine Frühgeborenen-Retinopathie diagnostiziert. Das rechte Auge des Klägers war erblindet. Die Behandlung des linken Auges hatte kaum Erfolg. Nach den Ausführungen des gerichtlichen Sachverständigen war es geboten, die Augen drei Wochen nach der letzten Untersuchung, am 8. November 2016, oder jedenfalls zum errechneten Geburtstermin am 10. November 2016 erneut auf Anzeichen einer Netzhautveränderung zu kontrollieren.

Rechtliches Gehör

Das Thema „rechtliches Gehör“ (Art. 103 Abs. 1 GG) ist beim Bundesgerichtshof ein Dauerthema. Es geht darum, dass sowohl Kläger aus auch Beklagte in einem Rechtstreit die Möglichkeit haben müssen, ihre Sicht der Dinge vorzutragen und durch Sachverständige klären zu lassen. Die Häufigkeit entsprechender Verstöße ist erstaunlich, sie geht vom Richter, der entgegen einem Sachverständigengutachten die Intervention bei einem Hydramnion für notwendig erachtet bis zum unzulässigen Übergehen eines Zeugenangebotes, mit dem der Vortrag der Eltern zu einer Situation im Kreißsaal widerlegt werden kann (BGH, Beschluss vom 12.09. 2023, Az. VI ZR 371/21)3. In allen diesen Fällen lohnt es sich, nicht klein beizugeben, sondern gemeinsam mit seinen Rechtsvertretern und der Haftpflichtversicherung einen Verfahrensverstoß zu rügen.

In seinen Entscheidungen des Jahres 2024 hatte der BGH wieder zu verschiedenen Verstößen Stellung nehmen müssen. In den entsprechenden Beschlüssen heißt es: Die Annahme, es bedürfe der Einholung des angebotenen anästhesiologischen Gutachtens schon deshalb nicht, weil sich auch ein unterstellter Behandlungsfehler bei Vergabe der Spinalanästhesie nicht schadensursächlich ausgewirkt habe, verstößt gegen den Anspruch auf Gewährung rechtlichen Gehörs (BGH, Beschluss vom 12.11. 2024, Az. VI ZR 361/23)4. Der Zeugenbeweis, dass die Klägerin von Ärzten erfahren hat, die vom Beklagten angewandte Methode nehme ihr die Möglichkeit eines weiteren Facelifts, hätte berücksichtigt werden müssen (BGH, Beschluss vom 19.11. 2024, Az. VI ZR 35/23)5. Und schließlich: Bezieht sich ein medizinischer Sachverständiger auf zur Behandlung zeitlich nicht kongruente Literatur, ist er auf Antrag dazu anzuhören (hier: Streptokokken-Besiedlung mit erhöhtem Infektionsrisiko bei zu später Einleitung der Geburt (BGH, Beschluss vom 02.07.2024, Az. VI ZR 240/23)6.

Zweitmeinung

Zur Patientenaufklärung gehört bei bestimmten Eingriffen auch der Hinweis auf die Möglichkeit, eine Zweitmeinung einzuholen (27 b SGB V). Die Aufklärung hat in der Regel mindestens zehn Tage vor dem geplanten Eingriff zu erfolgen, in jedem Fall aber so rechtzeitig, dass die Entscheidung über die Einholung einer Zweitmeinung wohlüberlegt getroffen werden kann. Der Arzt hat den Versicherten auf sein Recht auf Überlassung von Abschriften der Befundunterlagen aus der Patientenakte gemäß § 630g Absatz 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs, die für die Einholung der Zweitmeinung erforderlich sind, hinzuweisen.

Dies galt zunächst für Tonsillektomie, Tonsillotomie sowie Hysterektomien bei nicht malignen Erkrankungen. Am 01.10.2024 wurde die Richtlinie aktualisiert und um zahlreiche Eingriffe von Arthroskopien bis Aneurysma-Operationen erweitert (Details und Anleitungen siehe https://www.g-ba.de/richtlinien/107/). Zur Vermeidung von Aufklärungsdefiziten empfiehlt es sich, diese Richtlinie zu lesen und zu beachten.

Homöopathie/ausländische Ärzte

Zu zwei Themen war der Autor in 2024 um eine jeweilige Recherche gebeten worden. Zum einen ging es darum, ob Schadenfälle imponieren, in denen zugunsten der Homöopathie vom Facharztstandard abgewichen wurde. Und zum anderen ging es um das Risikopotential der rund 65.000 ausländischen Ärztinnen und Ärzte, die möglicherweise „schlecht deutsch“ sprechen. Eine erste Analyse konnte zu beiden Themen Entwarnung geben. Unabhängig von der Diskussion über Sinn und Zweck der Homöopathie scheint es so zu sein, dass sie in der Regel adjuvant und nicht als Standardersatz praktiziert wird. Analog war das Ergebnis zu ausländischen Ärzten: Auch hier ergab eine nicht repräsentative Ad-hoc-Recherche keine Schadenfälle, in welchem ärztliche Sprachdefizite Ursache von Behandlungs- oder Aufklärungsfehlern sind. Offenbar zeigt der Anforderungsstandard eines B2-Sprachzertifikates für die allgemeine Sprache und eines C1-Fachsprachzertifikates für Medizin Wirkung.

Autor: Patrick Weidinger

Korrespondenzanschrift:
Rechtsanwalt Patrick Weidinger
c/o Deutsche Ärzteversicherung
Colonia Allee 10-20 | 51067 Köln
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1 VersR 2024, 1614
2 NJW 2024, 2529
3 MDR 2024, 284
4 https://juris.bundesgerichtshof.de, Entscheidungen, Beschluss vom 12.11.2024 – VI ZR 361/23 –
5 https://juris.bundesgerichtshof.de, Entscheidungen, Beschluss vom 9.11.2024 – VI ZR 35/23 –
6 https://juris.bundesgerichtshof.de, Entscheidungen, Beschluss vom 02.07.2024 – VI ZR 240/23 –

Foto: privat