Es steht ein schmuckes, weiß getünchtes Haus in der Magdeburger Eichendorffstraße 10. Wunderbar reiht es sich ein in die Nachbarschaft der Margaretensiedlung am Herrenkrugpark. Auf dem Gehweg davor versammelt sich am Morgen des 26. September 2025 eine illustre Schar verschiedener Menschen, darunter ein Kamerateam, ein Vertreter der Stadt, Leute unterschiedlichen Alters, einige mit Rosen. Waltraut und Gerhard Zachhuber sind dabei, die beiden evangelischen Theologen engagieren sich seit Jahren im Förderverein „Neue Synagoge Magdeburg e. V.“ und wirken unermüdlich im Kampf gegen das Vergessen. Als Vertreter der Ärztekammer Sachsen-Anhalt ist Vorstand und Hausarzt Dr. Torsten Kudela vor Ort. Mit etwas Abstand haben Beamte in einem Polizeiwagen Stellung bezogen. Das muss zum Schutz so sein, wenn die Stolpersteine für Opfer nationalsozialistischer Verfolgung verlegt werden. Ein Stück bedrückende Realität, unumgänglich in diesen Zeiten, in denen sich neuer-alter Antisemitismus ausbreitet wie ein Krebsgeschwür. Es ist die inzwischen 45. Verlegung von Stolpersteinen in der Ottostadt. An diesem sonnigen Septembertag werden insgesamt 30 der Messingquader installiert. Der Weg vor dem Haus in der Eichendorffstraße 10 ist die erste Station. Hier wohnte einst die Familie von Dr. Julius Kahn. Der jüdische Arzt hatte das Gebäude 1932 gekauft und war mit Ehefrau Helene und Sohn Max eingezogen – sein letzter frei gewählter Wohnsitz. Das Leben hatte es bis dahin mit dem Mediziner gut gemeint, wie die Zuhörerschaft nach einem musikalischen Intro von Klarinettist Götz Baerthold erfährt. Kurz zuvor hatte der „Erfinder“ der Stolpersteine, Gunter Demnig, die neuen Stücke mit den Lebensdaten der Familie Kahn in das Gehwegpflaster eingebracht.
Geboren 1885 in eine jüdische Kaufmannsfamilie in Magdeburg, begann Julius Kahn 1909 nach dem Medizinstudium in Würzburg und München seine Laufbahn am städtischen Krankenhaus Altstadt. Als Vorsitzender des Vereins Magdeburger Kassenärzte engagierte er sich ab 1926 für eine patientennahe Versorgung. Für seinen Dienst als Lazarettarzt im Ersten Weltkrieg wurde er mit dem Eisernen Kreuz ausgezeichnet. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten begann seine Entrechtung: 1933 musste er sein Amt niederlegen, 1938 verlor er die Approbation. In der Reichspogromnacht wurde Dr. Kahn von der Gestapo nach Buchenwald verschleppt. Schwer misshandelt wurde er unter der Bedingung freigelassen, Deutschland zu verlassen und sein Vermögen aufzugeben.
Dr. Kahn plante die Ausreise nach Shanghai, verstarb jedoch am 1. April 1939. Die offizielle Todesursache lautete „Krebsgeschwulst im Auge“. Zeitzeugen berichten, sein Tod sei auf die Folgen der Haft zurückzuführen. Das Grab auf dem Israelitischen Friedhof am Fermersleber Weg in Magdeburg ist namenlos. Ehefrau Helene, Jahrgang 1895, überlebte zwar die Shoah, doch mag man kaum ermessen, wie sehr sie gelitten hatte – an Körper und Seele. Sie wählte im März 1948 den Freitod. Sohn Max Joseph Julius, geb. 1919 in Magdeburg, überlebte unter anderem das KZ Buchenwald. Nach der Befreiung 1945 ging er nach Berlin, heiratete, bekam drei Kinder und arbeitete als Busfahrer. Er starb am 2. November 1982.
Zur Stolpersteinverlegung sind Dr. Kahns Enkelin
Juliana (geb. 1947) und Enkel Armin (geb. 1952), zwei Urenkelinnen und sogar ein Ururenkel angereist. Teils von weit her – aus Freiburg im Breisgau, aus Dänemark.
Bewegend: Die Verlegung der Stolpersteine vor dem ehemaligen Haus der Familie Kahn in der Eichendorffstraße 10. Am selben Tag wurde auch für Dr. med. Gertrud Nachmann (1883 – 1936) ein Erinnerungsstück in der Großen Diesdorfer Straße 24 eingebracht.
Teils von weit angereist: Dr. Kahns Angehörige. In der Mitte Enkelin Juliana und Enkel Armin.
„Die Geschichte unserer Großeltern ist in der Familie immer präsent“, sagt Juliana Kahn, die in Magdeburg noch ihre Großmutter erlebte, wenn auch als Kleinkind. „Ich besitze noch wenige Stücke von ihr – eine Karaffe, Tischwäsche“, zählt sie auf und in den Augen sammeln sich Tränen. Ihr Bruder Armin ergänzt: „Und es existiert noch ein Holzkästchen mit der Zahl 9754 darauf – es ist die Häftlingsnummer unseres Vaters.“
Unterdessen ist die Zeremonie beendet, die Rosen werden an den drei Steinen niedergelegt. Gespendet wurden die Steine von einem jungen Paar, dem es ein Anliegen ist, Erinnerung wach zu halten. Oder wie es Gunter Demnig einmal formulierte: „Ein Mensch ist erst vergessen, wenn sein Name vergessen ist.“
Die Ärztekammer Sachsen-Anhalt hat die Patenschaft über die drei Stolpersteine der Familie Kahn übernommen. Anliegen ist es, sie zu pflegen, regelmäßig zu reinigen und als Ort des stillen Gedenkens zu nutzen.
K. Basaran
Armin Kahn, der derzeit ein Buch über seine Familie schreibt, im Gespräch mit Dr. Torsten Kudela, ÄKSA-Vorstand und Hausarzt (re.)